Interview mit Nicole Salathé


Seit wann spielt Kunst in Ihrem Leben eine Rolle?

 

Ich war fünf Jahre alt, als ich Kunst erstmals bewusst wahrnahm. Damals fielen mir zwei Tuschezeichnungen auf, die bei uns zuhause aufgehängt waren. Das eine Bild, das ich noch heute vor meinem inneren Auge sehe, war ein alter Rosenverkäufer in Paris mit einem Bund roter Rosen. Schlicht und gleichzeitig wunderschön. Erst später verstand ich, welche Bedeutung und Symbolik in diesen beiden Bildern lag.


Von welcher Symbolik und Bedeutung sprechen Sie?

 

Meine Mutter hatte in jungen Jahren die Kunstgewerbeschule in Paris besucht und dies waren die einzigen beiden Bilder, die aus dieser Zeit übriggeblieben waren. Seit frühester Kindheit war es der innigste Wunsch meiner Mutter gewesen, Künstlerin zu werden. Doch als jüngste Tochter einer Schreinerfamilie beugte sie sich dem Diktat ihres autoritären Vaters und absolvierte eine gesellschaftlich anerkannte kaufmännische Ausbildung. Ihr erstes Gehalt verdiente sie sich im Lohnbüro eines Schifffahrtsunternehmens, welches in Basel domiziliert war. Die Realität hatte sie eingeholt und es war unklar, ob dies das Ende ihrer künstlerischen Passion sein würde. 

 

Wann fand Ihre Mutter zu ihrer wahren Passion zurück?

 

Als wir Kinder grösser wurden und sich damit mehr Freiräume auftaten. Damals begann meine Mutter erneut zu zeichnen. Endlich konnte sie ihren Traum weiterleben. Ich bewunderte und bewundere bis heute ihre Kreativität und die expressive Kraft ihrer Zeichnungen und Grafiken.
War diese Begeisterung Ausschlag dafür, dass Sie selber im Kunstbetrieb aktiv wurden? Bestimmt. Es fing damit an, dass ich für meine Mutter den Transport der Werke, Reise und Unterkunft organisierte. In einer nächsten Phase war ich als Assistent meiner Mutter tätig. Dazu gehörten Kontaktaufnahmen und Verhandlungen mit den Galerien und Museen. Mit zunehmender Erfahrung und auch wachsendem Verständnis und Wissen für Kunst kam die Ausstellungsplanung dazu. Als Highlights dieser Zeit leitete ich die Presskonferenz im Museum Ostwall in Dortmund und hielt die Eröffnungsrede im Museum für Kommunikation Berlin.


Und wann begannen Sie, eigene Objekte zu kreieren?

 

Das war ca. 2001, damals noch parallel zur meiner organisatorischen und planerischen Tätigkeit. Im Gegensatz zu meiner Mutter, deren Herz für die Grafik schlug, galt mein Interesse von Anfang an der Konzeptkunst. Zum vertieften Verständnis las ich alles darüber, was ich finden konnte, und tauschte mich über Monate mit Professor Harald Krämer aus, der mir die Grundlagen der Konzeptkunst vermittelte. Doch obwohl ich als Installationskünstler meinen eigenen Weg einschlug, profitierte ich enorm von der Erfahrung meiner Mutter. Sie gab mir nicht nur praktische Tipps, sondern war auch eine strenge, aber wohlwollende Kritikerin, die prüfte, ob meine Arbeiten einem professionellen Anspruch genügten.


Trotz unterschiedlicher Ansätze haben Sie und Ihre Mutter aber doch ein paar Jahre gemeinsam ausgestellt. Warum?

 

Das war von 2004–2009. Die Phase der gemeinsamen Schauen begann im Centro Culturale Svizzero in Mailand und endete im Museum für Kommunikation Berlin. Interessanterweise haben meine Mutter und ich sehr häufig ähnliche Themen erarbeitet, vor allem in den Bereichen Kommunikation, Sprache, Assoziation von Sprache und Bild. Zudem beschäftigte uns, warum moderne Kommunikationsmittel mehr und mehr an Wichtigkeit gewannen. Ein Teil dieser Parallelität erklärt sich sicher durch die gemeinsamen Gespräche. Andererseits habe ich bei den Besuchen im Atelier meiner Mutter oft im Nachhinein gesehen, dass sie das gleiche Thema bereits 20–30 Jahren vorher bearbeitet hatte. Ähnliche Themen, aber unterschiedliche Formen und Ausdrucksmittel.


Kam es bei diesen gemeinsamen Auftritten nie zu einer Konkurrenzsituation?

 

Nein, denn weder ich noch meine Mutter hatten je den Anspruch, als Person im Zentrum zu stehen. Es ging uns immer um unsere Arbeiten, darum, diese an interessanten Orten zeigen zu können. Welche mehr Aufmerksamkeit und Resonanz erhielten, war kein Thema. Im Gegenteil, es war eine faszinierende, euphorisierende Zeit, mit der Möglichkeit, Städte zu bereisen, spannenden Menschen im IN- und Ausland zu begegnen. Diese Zeit war auch geprägt von der Unterstützung durch Ingo Bartsch, dem leider allzu früh verstorbenen Direktor des Kunstmuseums Dortmund. Ihm, als einer der Doyens der zeitgenössischen deutschen und italienischen Kunst, haben wir viel zu verdanken.


Nach dieser Phase haben Sie eine eigenständige künstlerische Karriere angestrebt. War die Zeit dafür reif?

 

Ja, meine Mutter hat ab 2010 ihre Ausstellungstätigkeit reduziert, denn sie wollte nicht mehr so viel reisen. Bis zu meiner ersten eigenen Schau sollten dann aber noch einmal acht Jahre vergehen. Dies hängt damit zusammen, dass ich mit Original-Vintage-Automaten aus den USA arbeiten wollte und ich mir erst eine entsprechende Sammlung aufbauen musste. Diese umfasst jetzt rund 150 Exponate: von Gas Pumps, Verkaufsautomaten, Spielautomaten, Einarmigen Banditen bis hin zu Casino-Equipment aus den 40er-60er Jahren, welche ich zu Installationen umarbeite.


Woher rührt Ihre Liebe zu solchen Automaten? Und: Wie finden Sie all diese Maschinen? Wie funktioniert die Logistik?

 

Schon in der Schule war ich fasziniert von Flipperautomaten. In den 1990-Jahren wohnte ich dann in Kalifornien und habe die amerikanische Unterhaltungsindustrie richtig lieben gelernt. Die Exponate finde ich übers Internet, via Auktionen, aber auch über Privatpersonen. Ein Freund von mir leitet in den USA ein Transportunternehmen und hat jedes einzelne Exponat für mich abgeholt, in Villen, Gate Communities in der Wüste, selbst in Slums.
Viele davon wiegen mehr als 100 Kilos. Stellen Sie sich diesen ungeheuren Aufwand vor. In einem zentralen Lager im Miami wurden die Maschinen seetauglich verpackt und in Container verschifft. Eine logistische Höchstleistung! Übrigens besitze ich nun weltweit die zweitgrösste Sammlung von Character slot machines (lacht).


Gratulation. Neben Ihrem Beruf als Installationskünstler sind Sie «ganz nebenbei» noch Professor für Gastroenterologie. Wie lassen Sie diese beiden Passionen verbinden?

 

Häufig werde ich gefragt, ob die gleichzeitige Beschäftigung mit Medizin/Wissenschaft und Kunst nicht ein Gegensatz sei oder sich sogar ausschliesse. Durch die heutige Spezialisierung sind zwei derart unterschiedliche Berufe sicher ungewöhnlich. Doch historisch gesehen gibt es viele Ärzte, die gleichzeitig erfolgreiche und anerkannte Künstler waren. Als Beispiel sei an Carl Gustav Carus erinnert. Eine Herausforderung ist viel mehr das Zeitmanagement. Da ich aber mit einer belastbaren Konstitution gesegnet bin und nur wenig Schlaf brauche, gelingt mir das ganz gut.


Wo liegen für Sie die Gemeinsamkeiten von Wissenschaft und Kunst?

 

Bei den Schaffensprozessen. Bei beiden steht das Interesse am Umfeld im Vordergrund, Ich nenne dies das «Investigative». Wenn ich einem Patienten gegenüber sitze, versuche ich herauszufinden, welche Umstände zu seiner Erkrankung geführt haben, welche Faktoren den Krankheitsverlauf beeinflussen, etc… Wenn mich eine wissenschaftliche Fragestellung interessiert, überlege ich mir, wie ich diese umsetzen, zu einem Ergebnis kommen kann. Ähnlich verhält es sich bei der Kunst. Bei der Wissenschaft entsteht der Forschungsplan, bei den Kunstprojekten das Konzept.


Und welche weiteren Schritte führen dann konkret zu einer Installation?

 

Vor der Erschaffung steht immer die Datensammlung. Diese ist entscheidend. Dafür habe ich ein Archiv mit Hunderten von Headlines, Kunstkritiken, Filmen, Photographien und auch persönlichen Befragungen angelegt. Als Quelle dienen Internet, Archive, Zeitungen, Fernsehen, Radio. Bei den Installationen, welche sich mit der Kommunikation innerhalb von Paarbeziehungen beschäftigen, habe ich immer vorgängig eine freiwillige Paarbefragung durchgeführt, deren Daten anonymisiert ausgewertet und als Datenpool für die Installation verwendet wurden. Je länger man sich mit Kunst und Wissenschaft beschäftigt, desto offensichtlicher werden also die Gemeinsamkeiten.